Theoretische Grundlagen
Auf dieser Seite möchten wir die wichtigsten theoretischen Überlegungen, die für unser Institut handlungsleitend sind, vorstellen.
Wir fühlen uns nicht einem bestimmten systemischen Modell verpflichtet, sondern stellen uns die Aufgabe, die Vielfalt systemischer Ansätze, so wie sie sich aus den familientherapeutischen Modellen der 1950er-Jahre entwickelt haben, aufzugreifen und zu vermitteln. Dabei sollen die unterschiedlichen Ansätze sowohl in ihrer theoretischen Bedeutung wie auch in ihrer handlungspraktischen Relevanz so in Bezug zueinander gesetzt werden, dass sich für die TeilnehmerInnen ein insgesamt konsistentes Reflexions- und Handlungsmodell ergibt.
Wenn man beginnt, sich mit Systemischer Beratung und Therapie zu beschäftigen, sieht man sich einer verwirrenden Vielzahl von Modellen und Konzepten gegenüber, die zum Teil keine gemeinsamen Berührungspunkte zu haben scheinen und die sich – scheinbar oder tatsächlich – an manchen Stellen sogar auf unvereinbare Weise widersprechen. Das liegt unter anderem daran, dass es in der Systemischen Beratung und Therapie keine solitäre Gründerpersönlichkeit – und damit auch keine „Gründungstheorie“ – gibt, wie das z.B. Sigmund Freud für die Psychoanalyse war, sondern dass es ab den 1950er-Jahren an mehreren Stellen in der Wissenschaft und auch in der psychotherapeutischen Praxis Entwicklungen gab, die sich gegenseitig befruchteten und verstärkten.
Der Weg zur Systemischen Beratung / Therapie
Von „Systemischer Beratung“ bzw. „Systemischer Therapie“ spricht man im deutschsprachigen Raum ca. seit den 1980er-Jahren. Die Anfänge reichen aber zurück in die 1950er-Jahre, als in den USA mehrere Pioniere das klassische Einzelsetting in der Therapie in Frage stellten und begannen, die Familien der Patienten direkt in den therapeutischen Arbeitsprozess miteinzubeziehen. Bekannte Vertreter dieser Epoche der Familientherapie sind u.a. Virigina Satir (wachstumsorientierter Ansatz), Paul Watzlawick (kommunikationstheoretischer Ansatz) sowie Salvador Minuchin (strukturelle Familientherapie).
So revolutionär dieser Schritt war, herrschte doch immer noch die Vorstellung einer direkten Instruierbarkeit von Familiensystemen und einer klar hierarchischen Beziehung zwischen wissendem Therapeuten und unwissendem Klienten vor. Die Konzepte des Konstruktivismus und der Autopoiesis, also der Selbststeuerung von Systemen, stellten diese Vorstellung dann ab den späten 70er-Jahren massiv in Frage und brachten eine neue Bescheidenheit in das therapeutische Selbstverständnis. Die Idee war nun nicht mehr, dass ein System von außen auf ein bestimmtes Ziel hin instruiert werden kann, sondern dass das System bestenfalls dazu angeregt werden kann, sich neu zu organisieren. Ob und wie dies dann stattfindet, entzieht sich der direkten Kontrolle des/der TherapeutIn. Die Kunst war nun, Interventionen so zu gestalten, dass die Wahrscheinlichkeit einer Neuorganisation möglichst hoch wird. Wichtige Namen sind hier der lösungsorientierte Ansatz von Steve DeShazer & Insoo Kim Berg, das Reflecting Team von Tom Andersen und der hypnosystemische Ansatz von Gunther Schmidt.
Eine jüngere Entwicklung in der systemischen Landschaft ist folgerichtig denn auch ein Verständnis von Therapie als „Schaffen der Bedingungen für Selbstorganisation“ (Schiepek et al., 2013). Dabei ist der Gedanke grundlegend, dass menschliches Erleben und Verhalten offensichtlich nicht chaotisch, sondern – in gewissen Rahmen – durchaus stabil und vorhersagbar ist. Das ist darauf zurückzuführen, dass sich in allen lebenden Systemen selbstorganisiert Muster und Ordnungen ausbilden, die eben diese Stabilität hervorbringen. Im ungünstigen Fall können diese Muster aber „überstabil“ werden, d.h. sie bleiben erhalten, obwohl sie im gegenwärtigen Kontext nicht mehr passend sind. Aufgabe von Beratung und Therapie ist dann, Klienten dabei zu unterstützen, alte, dysfunktionale Muster zugunsten neuer, im aktuellen Kontext passenderer Muster aufzugeben (sogenannte „Ordnungs-Ordnungs-Übergänge“). Prominente Vertreter dieser Denkrichtung sind z.B. Jürgen Kriz (Personzentrierte Systemtheorie) und Günter Schiepek (Synergetik und generische Prinzipien).
Wer all diese Entwicklungslinien inhaltlich genauer nachvollziehen will, sei auf die entsprechenden Kapitel in den einschlägigen Lehrbüchern verwiesen (von Schlippe & Schweitzer, 2013; Levold & Wirsching, 2014).
Was ist eigentlich „systemisch“?
Was versteht man dann aber heute unter „systemisch“ und unter Begriffen wir „Systemische Beratung“ oder „Systemische Therapie“? So einfach und verständlich diese Frage – insbesondere von TeilnehmerInnen, die gerade anfangen, sich mit dem Thema zu beschäftigen – ist, so enttäuschend ist es zunächst, dass es auch in der Gegenwart keine eindeutige Antwort darauf gibt. Es gibt keine Bestimmungsstücke, die alle systemischen Modelle gemeinsam haben oder die systemische Modelle eindeutig und klar von anderen, z.B. verhaltenstherapeutischen oder tiefenpsychologischen Therapiekonzepten abgrenzen: „Die Schwierigkeit einer klaren Definition von Systemsicher Therapie ohne hinreichende oder auch nur notwendige Bestimmungsstücke spricht eher dafür, dass es sich um eine im Fluss befindliche ‚Familienähnlichkeit‘ von Merkmalen handelt, die diesen Ansatz ausmachen.“ (Schiepek et al., 2013, S.13).
Diese Unschärfe und Uneindeutigkeit hat aber auch einen Vorteil: sie fordert jeden in der Systemischen Therapie Tätigen dazu auf, sich innerhalb des Rahmens, der durch den Stand des wissenschaftlichen Diskurses vorgegeben wird, darüber klar zu werden, wie er/sie „systemisch“ für sich versteht:
- Mit Schlippe und Schweitzer (2013) bezeichnen wir als System „eine beliebige Gruppe von Elementen, die durch Beziehungen miteinander verbunden und durch eine Grenze von ihren Umwelten abgrenzbar ist. Solche Systeme finden wir quasi überall – von Fröschen im Tümpel über Axonen und Dendriten in einem Nervensystem und den Kommunikationen zwischen Eltern und Kindern in einer Familie bis zu den Verschaltungen in einem Computer.“ (S. 31). Eine wichtige Eigenschaft von lebenden Systemen ist, dass sie selbststeuernd sind, das heißt, dass sie sich nach eigenen inhärenten Regeln organisieren, die das Überleben sichern sollen. Diese Regeln führen innerhalb des Systems zu bestimmten Mustern, die eine gewissen Vorhersagbarkeit und Stabilität erzeugen.
- Während in den klassischen systemischen Therapieansätzen vor allem die Ebene der Kommunikation und der Beziehungen im Mittelpunkt stand, sehen wir mit Jürgen Kriz (2017) die Notwendigkeit, menschliches Handeln und Erleben auf mindestens vier Ebenen zu betrachten: der psychischen Ebene, der interaktionellen Ebene, der körperlichen Ebene und der kulturellen Ebene. Jede dieser vier Ebenen kann wiederum mit Hilfe systemtheoretischer Modelle beschrieben und reflektiert werden. Sie sind miteinander verwoben und wirken aufeinander ein und deshalb müssen in Beratung und Therapie auch alle vier Ebenen zumindest mit im Blick sein.
- Menschen konstruieren „Sinn“, d.h. die Wirklichkeit, so wie sie individuell erlebt wird, ist eine Konstruktionsleistung der menschlichen Psyche, die dem unendlich vielfältigem Ereignis- und Erlebnisstrom Bedeutung und Struktur verleiht. Sinngebung wird dabei nicht als rein kognitiver Akt verstanden, sondern Sinn wird vielmehr ganz wesentlich auch durch die jeweils beteiligten Emotionen hergestellt.
- Deshalb sehen wir Gefühle und Emotionen als wichtigen „Motor“ für menschliches Handeln an. Sie führen zu je unterschiedlichen Erlebens- und Handlungsdispositionen und können theoretisch gewissermaßen als Bindeglied zwischen Körper und Psyche verstanden werden. Mit Luc Ciompi (1983) sehen wir menschliches Erleben deshalb in Form von sogenannten Fühl-Denk-Verhaltens-Muster organisiert, die in ihrer Ganzheit im Rahmen von Beratung und Therapie betrachtet werden müssen.
- Menschliches Leben findet immer in der Gegenwart und in einem fortwährenden Prozess statt. Sowohl das psychische wie auch das soziale System stellt in jedem Augenblick Sinn neu her, organisiert sich im Rahmen der etablierten Muster in jedem Augenblick neu und steht dabei in jedem Augenblick in engem Wechselwirkungsprozess mit dem Körper sowie der kulturellen Umwelt. Insofern begegnen wir eher statischen Begriffen wie „psychische Krankheit“, „Gesundheit“, „Problem“, „Störung“, oder auch „Persönlichkeit“ mit einer gewissen Skepsis, da sie Stabilität vorgeben, wo nach unserem Verständnis ein ständiger dynamischer Prozess ist.
- Wir verstehen Menschen aber auch als Wesen mit einer Biografie, die sich auf eine Zukunft hin entwickeln. Deshalb ist es aus unserer Sicht wichtig in der Therapie eine hilfreiche Balance zu finden zwischen Beschäftigung mit der Vergangenheit (wie und in welchem Kontext haben sich Problemmuster, aber auch Ressourcen in der Vergangenheit entwickelt), der Gegenwart (wie aktualisieren sich die Muster im Hier und Jetzt) und Zukunft (wie sollen sich neue Muster und Ressourcen in der Zukunft entwickeln). Insbesondere beim Blick in die Vergangenheit ist für uns der Gedanke handlungsleitend, dass es für alle Muster, auch die, die in der Gegenwart „gestört“ wirken oder unerwünscht sind, einen „guten Grund“ gab, also Kontextbedingungen, in denen es sinnvoll war, dieses Muster zu entwickeln.
Haltung
Aus diesen Überlegungen folgen einige wichtige Überzeugungen darüber, welche Haltung wir für die Arbeit als BeraterIn oder TherapeutIn als hilfreich ansehen:
- Wir sehen die Aufgabe von BeraterInnen und TherapeutInnen vor allem darin, Meschen dabei zu unterstützen, alte, als leidvoll erlebte Muster in neue, der Gegenwart gemäße Muster überzuführen. Eine differenzierte Beschreibung dieser Veränderungsprozesse im Rahmen von Beratung und Therapie– und wie die Rolle der/des TherapeutIn dabei verstanden werden kann – findet sich in den von Schiepek et al. (2013) entwickelten „generischen Prinzipien“.
- Als TherapeutInnen wissen wir zunächst weder, wie das Leid des Klienten genau beschaffen ist, noch was zur Aufrechterhaltung des Leids beiträgt, noch was zu einer Veränderung führen könnte, noch wie dieses veränderte Erleben dann im Einzelnen aussehen könnte. Wir können also nur in kooperativer Zusammenarbeit gemeinsam mit den Klienten Hypothesen zu diesen Punkten entwickeln. Ob diese Hypothesen hilfreich sind oder nicht, entscheidet sich ebenfalls nur in einem gemeinsamen Kommunikationsprozess zwischen TherapeutInnen und Klienten.
- So wie es einerseits natürlich gute Gründe dafür gibt, ein altes, leidvolles Muster aufzugeben, gibt es aber unter Umständen auch gute Gründe dafür, dieses alte Muster beizubehalten (und wenn es nur der Grund ist, dass es zumindest bekannt ist). Deshalb ist eine wichtige Haltung in der systemischen Beratung und Therapie die der Neutralität – nicht nur gegenüber den beteiligten Personen, sondern auch gegenüber der Entscheidung, ob eine Veränderung stattfinden soll oder nicht.
- Veränderungen machen häufig Angst, da nicht bekannt ist was kommt. Deshalb ist es wichtig, in der Beratung einen Rahmen zu schaffen, der Sicherheit vermittelt, was wiederum die Voraussetzung dafür ist, dass sich die Klienten diesen Ängsten stellen und mit Unterstützung der/des TherapeutIn den Mut finden können, die anstehenden Veränderungen anzugehen. Wertschätzung, Zuversicht und Humor durch die/den TherapeutIn helfen maßgeblich, damit die Klienten, die notwendige Sicherheit im Therapieraum finden können.
- Da menschliches Leben sich auf den vier Ebenen (körperlich, psychisch, interaktionell, kulturell) abspielt, sollten auch alle vier Ebenen in der Therapie zumindest mit bedacht werden. Insbesondere die körperliche (und emotionale) Ebene wurde in den klassischen Therapieansätzen und auch in den früheren Konzepten der systemischen Therapie eher vernachlässigt. Wir sind überzeugt, dass eine Einbeziehung dieser Ebenen die Wirksamkeit von Beratung und Therapie deutlich erhöhen kann.
All diese Ausführungen sind – letztlich – natürlich starke Verkürzungen und Vereinfachungen. Wir hoffen aber trotzdem, dass sie einen Eindruck vermitteln, wie wir unsere Arbeit in der Praxis verstehen und wie wir sie auch in der Lehre vermitteln möchten.
Literatur
Ciompi, L. (1982): Affektlogik: über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung; Klett-Cotta, Stuttgart
Kriz, J. (2017): Subjekt und Lebenswelt. Personzentrierte Systemtheorie für Psychotherapie, Beratung und Coaching; Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Levold T. & Wirsching, M. (Hrsg.) (2014): Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch; Carl-Auer, Heidelberg
Schiepek, G. et al. (2013): Grundlagen systemischer Therapie und Beratung. Psychotherapie als Förderung von Selbstorganisationsprozessen; Hogrefe, Göttingen
Von Schlippe, A. & Schweitzer, J. (2013): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen; 2. Auflage; Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen